Schwierigkeiten mit dem Erinnern. Die Max-Planck-Gesellschaft tut sich heute noch schwer

Am letzten Dienstag (24.10.2017) fand die erste Vorlesung in der Reihe „Forschung im Zeitalter der Extreme“ statt. Die Aula am Wilhelmsplatz war voll. Dass das Thema der Ringvorlesung auf so großes Interesse stößt! Immerhin hat der Saal 400 Sitzplätze.

Der Historiker Professor Dirk Schumann stellte das Programm der Vorlesung vor. Wissenschaft und Politik gingen im Nationalsozialismus enge Verbindungen ein, die auch die außeruniversitäre Forschung in Akademien und den damaligen Kaiser-Wilhelm-Instituten (heute Max-Planck) prägte. Beide stellten – so hat es der bekannte Historiker Professor Mitchell Ash, der am 07.11. referieren wird, formuliert – „Ressourcen füreinander“ dar. Eine Mischung aus Opportunismus und echter Begeisterung konstatierte Schumann.

Begriffe
Wenn man beginnt, sich mit einem Thema zu befassen, ist die Sensibilität für Begriffe groß. Es ist die Angst vor Fehlern, denke ich. So war ich erschrocken als ich bei Wolfgang Sofsky las, dass der Begriff „Holocaust“, der sich nach der gleichnamigen populären Fernsehsendung rasch in Deutschland verbreitete, ein religiöser Begriff ist. Er bedeutet „vollkommenes Brandopfer“. „Durch die Entstellung des Sinns entsteht der Eindruck, als habe der Massenmord eine tiefere religiöse Bedeutung, als hätten sich die Opfer gewissermaßen selbst geopfert.“ (Sofsky, Ordnung des Terrors, S.15). Unterschiedliche Bezeichnungen haben unterschiedliche Bedeutungen. Sie geben Interpretationen und heben Verschiedenes hervor. Sie können auch den Blick auf Tatsachen ersparen (Sofsky).

Professor Schumann benutzte in seinem Vortrag sieben Mal den Begriff NS-Regime. Dreimal sprach er vom „Dritten Reich“, einmal vom „nationalsozialistischen Deutschland“. Offensichtlich sind es drei eingeführte Begriffe, die man problemlos benutzen kann. Mir scheint, dass der von Schumann präferierte Begriff etwas stärker auf die staatliche Sphäre abhebt. Unabhängig von der negativen Konnotation bedeutet Regime zunächst einmal Regierungsform.

Fakten
Das Hauptereignis des Abends war der Vortrag von Professorin Carola Sachse aus Wien. Die Historikerin leitete im Auftrag von Max-Planck ein groß angelegtes Forschungsprojekt zur Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus. Am Dienstag sprach sie über „Die Max-Planck-Gesellschaft, die Zwillingsforschung und Auschwitz: Fakten und Vorstellungen“. Im Vordergrund ihres Vortrags standen zunächst die Fakten. Und zwar die Zusammenarbeit des deutschen Lagerarztes von Auschwitz und SS-Offiziers, Josef Mengele, mit dem Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik (KWI Anthropologie) in Berlin-Dahlem.
Mengele nutzte die „ethisch entgrenzten Bedingungen des Konzentrationslagers“ für Menschenversuche, für lebensgefährliche Experimente insbesondere an Zwillingskindern, Juden und Sinti, die er von der Rampe in Auschwitz selektierte. Für die eugenischen Forschungen des KWI Anthropologie lieferte er Augäpfel von Ermordeten und präparierte Hirnschnitte der Toten. Die Fakten sind eindeutig. Die Wissenschaft und die Wissenschaftler profitierten von der Mordmaschine Auschwitz. Dabei war das KWI Anthropologie keine Ausnahme, sondern die Regel. Alle Kaiser-Wilhelm-Institute, so Sachse, waren an der nationalsozialistischen Kriegs- und Rüstungsforschung beteiligt.

Vorstellungen
Sind die Fakten auch eindeutig, die Vorstellungen sind es nicht. Die nationalsozialistische Vergangenheit ihrer Vorgängerinstitute macht der Max-Planck-Gesellschaft auch heute noch Probleme. 2001 waren es Opfer und Überlebende, die verhinderten, dass es bei der Erforschung der NS-Vergangenheit blieb. Die Nachfolgeorganisation sollte Verantwortung übernehmen.

In einem gemeinsamen Kolloquium forderte Eva Moszes Kor vom Verband „Children of Auschwitz Nazi Deadly Lab Experiments Survivors“ (C.A.N.D.L.E.S) eine Entschuldigung vom Präsidium der Max-Planck-Gesellschaft. Nur dann könne Vergebung gewährt werden.
Der damalige Präsident der Gesellschaft konnte diesen Weg nicht gehen. Er konzentrierte sich in seiner Rede – so Carola Sachse – weiterhin auf die Fakten. Seiner Auffassung nach könnten nämlich nur Täter um Verzeihung bitten. Und um Täter handele es sich bei der jetzigen Max-Planck-Gesellschaft nicht.

Erinnern, statt vergeben
Für einen anderen Weg des Umgangs mit der NS-Vergangenheit appelierte 2001 Jona Iaks aus Tel Aviv. Vergeben könne sie nicht und wolle sie nicht, denn Vergeben führe zum Vergessen. „Wir verlangen von Ihnen, dass Sie sich an das erinnern, was Sie „aufräumen“ und dann vielleicht vergessen wollen. Wir werden uns auf jeden Fall erinnern – werden Sie auf jeden Fall vergessen?“

Letzteres scheint der Fall zu sein. Carola Sachse beschloss ihren Vortrag mit dem Foto der Erinnerungstafel angebracht am ehemaligen KWI Anthropologie: Die Schrift ist kaum zu lesen, denn sie ist verwittert. So sieht die Erinnerungskultur von Max-Planck heute aus! Und deshalb stellt sich die Frage: Wäre die Wissenschaft heute gefeit?