Leo Baeck. Ein Hörspiel nach authentischen Texten von Erwin Sylvanus

1958 erhielt Erwin Sylvanus den Leo-Baeck-Preis des Zentralrats der Juden in Deutschland. Der Autor werde der Qualität seines Dramas und seiner humanitären Gesinnung wegen preisgekrönt, heißt es in der Begründung. 1962 erscheint sein Hörspiel „Leo Baeck“ in einer Textfassung.* Der Rabbiner Leo Baeck (1873-1956) war einer der bedeutendsten Vertreter des liberalen deutschen Judentums. 1935 kritisiert er öffentlich die Verfolgung der deutschen Juden.** Bei Sylvanus hat er Ähnlichkeiten mit dem Helden von „Korczak und die Kinder“.
Das Hörspiel – zehn Szenen
In zehn Szenen dokumentiert Erwin Sylvanus die Haltung Baecks in den Zeiten der nationalsozialistischen Verfolgung. In Szene 1, die im Jahr 1933 spielt, plädiert der Rabbi dafür, das Primat des Religiösen auch in Zeiten der Verfolgung anzuerkennen. Im gleichen Jahr wird er zum Präsidenten der „Reichsvertretung der deutschen Juden“, in der sich eine Vielzahl jüdischer Organisationen zusammentun, gewählt (Szene 2). Er mahnt, den Fanatismus der Nationalsozialisten nicht zu unterschätzen: „Es ist ein geistiges und moralisches Unglück, dass man aus dem Deutschtum eine Religion gemacht hat.“ (S.211).
Novemberpogrom
Szene 3 spielt im München des Jahres 1938. Leo Baeck spricht in der Münchner Synagoge, als die Versammelten die Nachricht erhalten, dass das Gebäude am nächsten Tag zerstört werden soll. Es ist der Tag vor den Novemberpogromen. Obwohl er gedrängt wird, sich in Sicherheit zu bringen und Deutschland zu verlassen, bleibt er (Szene 4): „Ich kann die deutschen Juden nicht verlassen, denn sie können nicht alle auswandern … ich muss bleiben, solange noch ein Jude in Deutschland lebt …“ (S.220).
In Theresienstadt
1943 wird er aus Berlin nach Theresienstadt deportiert (Szene 5 und Szene 6). In Szene 7 weigert sich Leo Baeck, einen Transport von Menschen aus Theresienstadt in das nahe gelegene Auschwitz zusammenzustellen. Aber ihm wird gesagt: „Das würde alles nur verschlimmern. Man würde Nummern zusammentreiben … aber durch Sie, Rabbi, bleiben wir Menschen. Wir, die Deportierten und die noch nicht Deportierten. Wir bleiben Menschen.“ 1945 wird Leo Baeck in Einzelhaft genommen. Die Nazis haben bemerkt, dass nicht er, sondern ein Namensgleicher in Berlin ermordet worden ist. Nun soll er getötet werden (Szene 8). Doch Theresienstadt und mit ihm Leo Baeck werden befreit (Szene 9). Die Befreier bittet er darum, dass der Kommandant des Lagers vor Gericht gestellt und nicht gelyncht wird.
Nach der Befreiunng
Leo Baeck hält die Geschichte der Juden in Deutschland beendet. Dennoch erklärt er sich bereit, Deutschland zu besuchen (Szene 10). Deutschland müsse den Philister (Spießbürger) überwinden: „Der Philister, dieser Mensch ohne Morgen, dem das Gelingen in allem recht geben sollte, der, weil er den Erfolg hatte, über alle sein Urteil zu haben glaubte. Dieser Mensch der Befriedigtheit und Problemlosigkeit, dieser Mensch ohne Morgen, verband sich mit dem Parvenü, dem Menschen ohne Gestern …“ (S.238)
Die Grundlagen
Das Stück „Korczak und die Kinder“ verfasste Erwin Sylvanus auf Grundlage eines Augenzeugenberichts, der 1956 in der Zeitschrift „Kulturprobleme des Neuen Polen“ erschienen war. Im Titel von „Leo Baeck“ weist Sylvanus darauf hin, dass er das Stück nach authentische Quellen geschrieben habe.
Wir wissen nicht, was dies für Quellen waren. Wer sein Gesprächspartner war, wissen wir schon. In der Veröffentlichung von 1962 heißt es: „Der Autor schrieb das hier abgedruckte Stück nach ausgedehnten Gesprächen mit dem Herausgeber, die sich über einige Monate hinzogen.“ Herausgeber von „Aus Geschichte und Leben der Juden in Westfalen“ war Hans Chanoch Meyer (1909-1991). Er war Ende 1958 Landesrabbiner von Westfalen geworden. Bereits zu seinem Vorgänger, Dr. Paul Holzer, hatte Erwin Sylvanus den Kontakt geknüpft.
Es scheint wichtig für Sylvanus gewesen zu sein, seine Stücke auf der Grundlage von Quellen zu erstellen und Kenner der jüdischen Geschichte einzubeziehen. Auch „Korczak und die Kinder“ scheint er dem Rabbiner Holzer vor der Inszenierung zum Gegenlesen vorgelegt zu haben.
Die Helden
„Es ist die von ihm verkörperte unzerstörbare Menschlichkeit, die berührt“, so hat Dorothea Mummendey im Interview mit uns den Helden Janusz Korczak charakterisiert.*** Janusz Korczak hätte sein eigenes Leben retten könnten – so heißt es in der Legende. Aber er ließ sich in das Vernichtungslager Treblinka deportieren. Er wollte die ihm anvertrauten Kinder nicht verlassen. Auch Leo Baeck hätte aus NS-Deutschland fliehen können. Aber er wollte die ihm als Rabbiner anvertrauten jüdischen Gläubigen nicht zurücklassen. Das Heldentum beider fußt darauf, bereit zu sein, das eigene Leben für andere zu opfern.
Die Lüge
Ein weiteres Motiv verbindet die beiden Stücke von Sylvanus. Die Lüge hat aus seiner Sicht sowohl für Janusz Korczak wie auch für Leo Baeck eine große Bedeutung. Bereits in der ersten Szene von „Korczak und die Kinder“ heißt es: „Ich will Ihnen jetzt von Janus Korczak erzählen, der immer liebte und nie log. Einmal nur hat er gelogen: aus Liebe.“ Für Korczak ist es religiöses Gesetz, nicht zu lügen. Er lügt aber, um die Kinder vor der Wahrheit zu schützen, dass sie ermordet werden. Dieses ethische Dilemma durchzieht das Stück „Korczak und die Kinder“.
Auch Leo Baeck lügt, indem er verschweigt. Im Unterschied zu Korczak wird er für diese Lüge später angegriffen. Bei Sylvanus heißt es in Szene VII: „In Theresienstadt werden Menschen über Menschen zusammengepfercht. Und Menschen über Menschen, wehrlose, hilflose, fast nackte Menschen verlassen Woche um Woche das Lager. Man weiß, wohin sie gebracht werden. Rabbi Baeck weiß es auch. Sie werden vergast, getötet. Weil sie Juden sind.“ (S.228). 1943 erfährt Baeck durch einen Augenzeugen, dass die nach Auschwitz deportierten Juden vergast werden. Er entschließt sich, niemandem davon zu erzählen.***
Anmerkungen:
*Hans Chanoch Meyer (Hrsg.), Aus Geschichte und Leben der Juden in Westfalen. Eine Sammelschrift, Frankfurt a. M. 1962.
**** Vgl. hierzu David Dowdey, Introduction, in: Erwin Sylvanus, Leo Baeck. A Radio Play Based on Authentic Texts. Edited and Translated by David Dowdey an Robert Wolfgang Rhée, New York et.a. 1996, S.9f.

Schwierigkeiten mit dem Erinnern. Die Max-Planck-Gesellschaft tut sich heute noch schwer

Am letzten Dienstag (24.10.2017) fand die erste Vorlesung in der Reihe „Forschung im Zeitalter der Extreme“ statt. Die Aula am Wilhelmsplatz war voll. Dass das Thema der Ringvorlesung auf so großes Interesse stößt! Immerhin hat der Saal 400 Sitzplätze.

Der Historiker Professor Dirk Schumann stellte das Programm der Vorlesung vor. Wissenschaft und Politik gingen im Nationalsozialismus enge Verbindungen ein, die auch die außeruniversitäre Forschung in Akademien und den damaligen Kaiser-Wilhelm-Instituten (heute Max-Planck) prägte. Beide stellten – so hat es der bekannte Historiker Professor Mitchell Ash, der am 07.11. referieren wird, formuliert – „Ressourcen füreinander“ dar. Eine Mischung aus Opportunismus und echter Begeisterung konstatierte Schumann.

Begriffe
Wenn man beginnt, sich mit einem Thema zu befassen, ist die Sensibilität für Begriffe groß. Es ist die Angst vor Fehlern, denke ich. So war ich erschrocken als ich bei Wolfgang Sofsky las, dass der Begriff „Holocaust“, der sich nach der gleichnamigen populären Fernsehsendung rasch in Deutschland verbreitete, ein religiöser Begriff ist. Er bedeutet „vollkommenes Brandopfer“. „Durch die Entstellung des Sinns entsteht der Eindruck, als habe der Massenmord eine tiefere religiöse Bedeutung, als hätten sich die Opfer gewissermaßen selbst geopfert.“ (Sofsky, Ordnung des Terrors, S.15). Unterschiedliche Bezeichnungen haben unterschiedliche Bedeutungen. Sie geben Interpretationen und heben Verschiedenes hervor. Sie können auch den Blick auf Tatsachen ersparen (Sofsky).

Professor Schumann benutzte in seinem Vortrag sieben Mal den Begriff NS-Regime. Dreimal sprach er vom „Dritten Reich“, einmal vom „nationalsozialistischen Deutschland“. Offensichtlich sind es drei eingeführte Begriffe, die man problemlos benutzen kann. Mir scheint, dass der von Schumann präferierte Begriff etwas stärker auf die staatliche Sphäre abhebt. Unabhängig von der negativen Konnotation bedeutet Regime zunächst einmal Regierungsform.

Fakten
Das Hauptereignis des Abends war der Vortrag von Professorin Carola Sachse aus Wien. Die Historikerin leitete im Auftrag von Max-Planck ein groß angelegtes Forschungsprojekt zur Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus. Am Dienstag sprach sie über „Die Max-Planck-Gesellschaft, die Zwillingsforschung und Auschwitz: Fakten und Vorstellungen“. Im Vordergrund ihres Vortrags standen zunächst die Fakten. Und zwar die Zusammenarbeit des deutschen Lagerarztes von Auschwitz und SS-Offiziers, Josef Mengele, mit dem Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik (KWI Anthropologie) in Berlin-Dahlem.
Mengele nutzte die „ethisch entgrenzten Bedingungen des Konzentrationslagers“ für Menschenversuche, für lebensgefährliche Experimente insbesondere an Zwillingskindern, Juden und Sinti, die er von der Rampe in Auschwitz selektierte. Für die eugenischen Forschungen des KWI Anthropologie lieferte er Augäpfel von Ermordeten und präparierte Hirnschnitte der Toten. Die Fakten sind eindeutig. Die Wissenschaft und die Wissenschaftler profitierten von der Mordmaschine Auschwitz. Dabei war das KWI Anthropologie keine Ausnahme, sondern die Regel. Alle Kaiser-Wilhelm-Institute, so Sachse, waren an der nationalsozialistischen Kriegs- und Rüstungsforschung beteiligt.

Vorstellungen
Sind die Fakten auch eindeutig, die Vorstellungen sind es nicht. Die nationalsozialistische Vergangenheit ihrer Vorgängerinstitute macht der Max-Planck-Gesellschaft auch heute noch Probleme. 2001 waren es Opfer und Überlebende, die verhinderten, dass es bei der Erforschung der NS-Vergangenheit blieb. Die Nachfolgeorganisation sollte Verantwortung übernehmen.

In einem gemeinsamen Kolloquium forderte Eva Moszes Kor vom Verband „Children of Auschwitz Nazi Deadly Lab Experiments Survivors“ (C.A.N.D.L.E.S) eine Entschuldigung vom Präsidium der Max-Planck-Gesellschaft. Nur dann könne Vergebung gewährt werden.
Der damalige Präsident der Gesellschaft konnte diesen Weg nicht gehen. Er konzentrierte sich in seiner Rede – so Carola Sachse – weiterhin auf die Fakten. Seiner Auffassung nach könnten nämlich nur Täter um Verzeihung bitten. Und um Täter handele es sich bei der jetzigen Max-Planck-Gesellschaft nicht.

Erinnern, statt vergeben
Für einen anderen Weg des Umgangs mit der NS-Vergangenheit appelierte 2001 Jona Iaks aus Tel Aviv. Vergeben könne sie nicht und wolle sie nicht, denn Vergeben führe zum Vergessen. „Wir verlangen von Ihnen, dass Sie sich an das erinnern, was Sie „aufräumen“ und dann vielleicht vergessen wollen. Wir werden uns auf jeden Fall erinnern – werden Sie auf jeden Fall vergessen?“

Letzteres scheint der Fall zu sein. Carola Sachse beschloss ihren Vortrag mit dem Foto der Erinnerungstafel angebracht am ehemaligen KWI Anthropologie: Die Schrift ist kaum zu lesen, denn sie ist verwittert. So sieht die Erinnerungskultur von Max-Planck heute aus! Und deshalb stellt sich die Frage: Wäre die Wissenschaft heute gefeit?

Der Erste Schauspieler in „Korczak und die Kinder“

Der „Erste Schauspieler“ in „Korczak und die Kinder“ ist der „Leiter eines Einsatzkommandos“ – ein SS-Mann. Die SS-Einsatzkommandos waren berüchtigt – verantwortlich für die Massenvernichtung an Juden und Sinti. Sie liquidierten das Warschauer Ghetto und transportierten die jüdische Bevölkerung in das Vernichtungslager Treblinka. Gemessen an den Untaten der SS wirkt der „Leiter eines Eisatzkommandos“ fast harmlos. Zu harmlos?
Sylvanus lässt ihn seine Lebensgeschichte berichten – jenseits von NS und Terror. Der Leiter des Einsatzkommandos ist ein Kleinbürger. Er erzählt von seiner Jugend und von dem Hunger, für den er sich schämte. „Nicht der laute, knurrende Hunger, sondern der leise schleichende Hunger. Der Nierenfetthunger, möchte ich sagen. Der Hunger, den man als Kleinbürger verbirgt und nicht wahrhaben will.“ Zuhause warten seine Frau, zwei Kinder und der Hund Waldi. Er freut sich, dass Waldi ihn überschwänglich begrüßt. Er ist Antisemit. In seiner Jugend wollte er die Wahrheit sagen und nicht lügen. Bei der Hitler-Jugend lernte er zu lügen. Am Ende überredet er Janusz Korczak, seine Waisenkinder in das Vernichtungslager zu begleiten. Und er verstößt gegen seinen Befehl, als er die Betreuerinnen der Waisenkinder auf Bitte von Korczak verschont. Der alte Mann ist dem SS-Mann in dieser Gesprächssituation überlegen: „Will es mich denn nie freigeben, das Schämen? Es war wie damals, als ich immer Hemden tragen musste, die nicht passten. Weil sie aus den abgelegten Hemden meines Vaters geschneidert waren. Dieser Saujude, dieser dreimal verfluchte!“
Erwin Sylvanus schreibt, dass der Leiter des Einsatzkommandos bei den Inszenierungen in Ausland besonderes Interesse erweckt habe. Die Figur habe er wegen ei-ner Frage von Janusz Korczak geschrieben. Wenige Tage vor der Liquidierung des Ghettos beobachtete Korczak einen Soldaten im Hof des Waisenhauses und fragte sich, wie dieser junge Mann aufgewachsen sei.
Ist das eine Verharmlosung? In seinem Buch „Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager“ schreibt der Göttinger Wolfgang Sofsky: „Das organisierte Verbrechen war monströs, die Täter waren es nicht.“