Schlagwort: Judentum
Landesrabbiner Dr. Paul Holzer
Ulrike Witt hat einen Link geteilt.
Neuigkeiten aus dem Archiv!
Wir suchten Menschen im Umfeld von Erwin Sylvanus, die ihm vom Holocaust hätten berichten können. Die ihm vielleicht bei „Korczak und die Kinder“ geholfen haben. Joseph Wulf, der „Pionier der Holocaustforschung in der Bundesrepublik“, war es nicht. Seine Korrespondenz mit Erwin Sylvanus begann erst nach der Veröffentlichung von „Korczak und die Kinder“, haben wir festgestellt.
In der Dortmunder Landes- und Stadtbibliothek haben wir eine neue Spur gefunden. Am 22. Mai 1957 antwortet der Landesrabbiner von Westfalen, Dr. Paul Holzer (1892-1975) auf ein Schreiben von Erwin Sylvanus. Es scheint um das Theaterstück „Korczak und die Kinder“ zu gehen, das seit April 1957 dem Theaterverlag Rowohlt vorlag. Holzer schreibt: „Des öfteren schon habe ich an Sie gedacht und mich gefragt, ob Sie wohl die Veröffentlichung von der Sie z.Zt. gesprochen haben, auch gemacht haben … Herzlich bin ich bereit, den Beitrag, den Sie drucken lassen wollen, vorher mit Ihnen durchzugehen.“
Er würde sich sehr freuen, wenn Sylvanus am Samstag, den 2. Juni kommen und am Gottesdienst teilnehmen wolle. Nur – es sei an diesem Tag nicht möglich, den Beitrag durchzusehen, da Sabbat sei. Erwin Sylvanus – das zeigt der Briefwechsel – war mit jüdischer Religiosität wenig vertraut.
Eine Schlüsselszene
III. Szene
Zweiter Schauspieler: Ja. Nun bin ich also Janus Korczak. Arzt. Kinderarzt, genauer gesagt. In der Sliskastraße wohne ich. In Warschau. Jedermann hier kennt mein Waisenhaus für jüdische Kinder. Ich bin ein polnischer Jude – oder bin ich ein jüdischer Pole?
(Erster Schauspieler und Schauspielerin setzen sich auf die beiden Stühle im Hintergrund und hören zu. Erster Schauspieler wendet sich ab.)
Sprecher: Eine gar nicht so leichte Frage ist das. Oder auch: eigentlich ist es gar keine Frage. Wenn ich sage, du bist ein Jude, so ist etwas ganz anderes gemeint, als wenn ich sage, du bist ein Pole.
Zweiter Schauspieler: Wir sprechen aber von mir, von Janus Korczak und, einem einzigen und einigen Menschen.
Sprecher: Du weißt selbst, wie es sich verhält.
Zweiter Schauspieler: Darum ist es so schwer, davon zu sprechen. Das Wissen macht stumm. Wir Juden sind so stumm – so überaus stumm sind wir –, weil wir wissen: den einen, Gott. Wir missionieren nicht, wir überreden nicht. Wir leben im Wissen und tun dieses Wissen; denn wir haben das Gesetz. Was schmäht man und verachtet uns? Es ist unsere Sache. Wir geben nicht auf, zu wissen und gehorsam zu sein. Unsere Kraft aber ist kein Geheimnis.
Sprecher: Du bist auch ein Pole.
Zweiter Schauspieler: Ich bin es gern. Ich liebe dieses arme Land, das so reich ist an Gefühl und Sehnsucht. Dieses verachtete und nun schon wieder geteilte Land, das so stolz ist auf seine Lieder oder seine Vögel und auf seine Gewässer und auf seinen Frühling und auf seine Kinder, …. Ja, auf seine Kinder, die in Lumpen geboren werden und für die ich da bin.
Sprecher: Du bist nicht in Lumpen geboren!?
Zweiter Schauspieler: Warum fragst du so umständlich? Ich habe nicht viel Zeit. Meine Kinder warten auf mich.
Sprecher: Und der Tod.
Zweiter Schauspieler: Du verwirrst mich nicht. Meine Kinder warten. Mit kurzen [wenigen] Worten will ich Dir aber Auskunft geben, Dir und auch Euch (hat sich dem ersten Schauspieler und der Schauspielerin zugewandt) und auch Ihnen (in den Zuschauerraum).
Ich bin der Sohn eines Rechtsanwaltes, und ich war 11 Jahre alt, als er schwer erkrankte. Vaters Leiden – fast unmerkbar zunächst schlug es ihn, bis es zu schrecken begann. Es war von der Art, die mich bestimmte, kinderlos zu bleiben. Er wusste nicht mehr, was er tat, und tat, was er nicht wusste.
Not nistete sich nun als täglicher Gast bei uns ein. Doch davon kann man nicht erzählen.
Erzählen lasst mich aber von der Uhr, die mein Vater trug, eine kleine vergoldete Uhr. Der Mutter und uns Kindern verblieb sie als liebes Andenken, als er von uns ging: in einem Anstaltsbett starb er. Niemand von uns war zugegen.
Die Gedenkkerze brannte jeden Abend für den Vater, aber auch das Ticken der Uhr bedeutete uns viel. Als wieder einmal kein Brot im Haus war, brachte die Mutter die Uhr zum Trödler. Der legte sie in sein Schaufenster.
(Zum Sprecher) Bitte, nehmen Sie diese Uhr. Ich löse sie ja wieder ein. Bitte, bewahren Sie diese Uhr für eine ganz kurze Zeit, gut – für einige Tage nur.
(Die folgenden Bewegungen mit der Uhr werden nur markiert: er gibt dem Sprecher seine Uhr, die er aus seiner Tasche geholt hat.)
Nun müssen Sie ein wenig zurücktreten und die Uhr in der Hand halten. Ich sagte ja schon: der Trödler legte sie in sein Schaufenster, ein engbrüstiges und nicht ganz sauberes Fenster, vollgepfropft mit merkwürdigen und traurigen Dingen. Jeden Tag sahen wir dort die Uhr. Dort lag sie, die Uhr meines Vaters, eine kleine, vergoldete Uhr. (Er blickt angestrengt und nah auf die Uhr in der Hand des Sprechers.)
Damals geschah es, dass ich mein Leben begriff und ein Handelnder wurde. Ich war ein Kind und begriff es. Ich machte Botengänge und verdiente wenig durch geringe Dienste. Meine Geschwister taten alles nach, was sie an mir sahen. Wir redeten nicht darüber.
Schauspielerin: Ich denke, Sie sprechen von einer großen geistigen Entscheidung Ihres Lebens.
Zweiter Schauspieler: Lassen Sie mir Zeit. Ich habe ja noch nicht zu Ende gesprochen.
Schauspielerin: Sie sagten ….
Zweiter Schauspieler: (heftig) Ich sagte, dass ich an jedem Tage die Uhr meines Vaters sehen musste, die kleine vergoldete Uhr in dem Trödlerladen (weist auf die Uhr in der Hand des Sprechers). Das sagte ich. Und wir Kinder hungerten und sparten heimlich, um die Uhr zurückkaufen zu können. Die gehörte der Mutter und uns, nicht dem Trödler. (Der Sprecher bringt dem ersten Schauspieler die Uhr, bleibt hinter dem ersten Schauspieler und der Schauspielerin, die auf den Stühlen sitzen, stehen. Der erste Schauspieler steckt die Uhr in die Hosentasche, als sei sie seine eigene Uhr). Als wir das Geld beisammen hatten, gingen wir vor den Laden. Die Uhr war fort. (Während dieser Worte hat er die Stelle gesucht, da der Sprecher zuvor stand.) Verstört trat ich ein, ordnete das Geld auf dem Tisch und forderte die Uhr. Sie war am Morgen verkauft, am Morgen, der diesem Mittag voranging. Das meinte ich, wenn ich sagte, dass ich das Leben begriff.
Schauspielerin: Sie haben geweint?
Zweiter Schauspieler: Ich habe begriffen.… und den Entschluss gepriesen, der uns das Geld sammeln ließ. Dennoch blieb eine Unruhe in mir, und ich suchte unseren Rabbi auf. Er war weise und geschickt, die Schrift auszulegen. (Der erste Schauspieler hat die Uhr wieder aus der Tasche genommen, sie während der letzten erzählenden Worte des zweiten Schauspielers sorgfältig, aber an dem Bericht anscheinend uninteressiert, betrachtet. Nun gibt er sie mit einigen geflüsterten Erklärungen der Schauspielerin, die ein wenig zornig nach ihr greift und sich dann schroff von dem ersten Schauspieler abwendet).
Er saß versunken und betrachtete das Gelesene. Kaum blickte er auf, aber er hörte zu. Er hörte gut zu. Er antwortete: Du suchst die kleine, vergoldete Uhr deines Vaters. (Der Sprecher lässt sich von der Schauspielerin die Uhr zurückgeben und geht an seinen Platz an der Vorderbühne zurück.) Nimm meine Uhr. Nimm. Ich habe sie von meinem Vater. (Der zweite Schauspieler nimmt die Uhr aus der Hand des Sprechers zurück, hält sie aber noch abwehrend von sich.) Ihr habt nun selbst keine Uhr mehr, Rabbi, fragte ich. Da wurde er zornig und verwies mich des Raumes. Ich kam wieder. Ich kam immer wieder. Denn ich wusste, weshalb er so zornig geworden war, und bat ihn um Verzeihung. (Setzt sich.)
Sprecher: Ich begreife ihn nicht. (Zur Schauspielerin und dem ersten Schauspieler) Begreifen Sie ihn?
Erster Schauspieler: Nein. Das ist mir zu hoch.
Schauspielerin: Vielleicht ist es so, dass der Rabbi zeigen wollte, welch geringer Wert einer kleinen vergoldeten Uhr zukommt, wenn es um die heiligen Bücher der Juden geht.
Zweiter Schauspieler: Es mag sein, dass nur ein Jude das Wesentliche dieses Vorfalls zu erkennen und zu deuten vermag. Ich sage das ohne Überheblichkeit. Es mag sein, der Rabbi sah einzig die Wahrheit. Wegen der Uhr war ich gekommen. Aber ich saß nun vor dem Gesetz. Ich hatte wieder eine goldene Uhr. Die Uhr meines Vaters war sie nicht – und doch war sie die Uhr unseres Vaters. Er liebte sie gewiss ein wenig. Auch ein Jude liebt ja die Dinge. In dieser Stunde musste er sich von der Uhr trennen. (Er besieht sich noch einmal die Uhr.) Sonst hätte er gelogen. Sonst hätte er mich belogen. Wer Gott weiß, lügt nicht. Und er war zornig, weil ich ihn der Lüge zieh. Deshalb musste er zornig sein. Auch heißt es in der Schrift: du sollst Dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen. Die Uhr war uns zum Gleichnis geworden und mehr. (Während der letzten Worte hat der zweite Schauspieler die Uhr wieder – markierend – in die Tasche gesteckt.)
Sprecher: Nun weiß ich, weshalb Sie dies berichtet haben. (Während der folgenden Worte des zweiten Schauspielers geht er wieder in die Mitte der Vorderbühne.)
Zweiter Schauspieler: Damals nahm ich mir vor, dem Rabbi nachzueifern. Niemals zornig zu werden über menschliche Schwächen. Aber zu wüten, wenn mich jemand zum Lügner machen will. So habe ich es gehalten.
Erster Schauspieler: (erhebt sich und kommt wieder nach vorn) Dies Stück ist mir zu edel. Das heißt auch: pervers. Ich kenne meinen Kollegen …… ja nicht wieder. Er redet, als habe er höchst selbst die Wahrheit erfunden.
Sprecher: Er versucht, die Strukturen der Wahrheit aufzudecken. Er bleibt Ihr Kollege, und doch hören Sie Janus Korczak. Sie… und wir….
Erster Schauspieler: Ich hörte den Schauspieler….
Zweiter Schauspieler: Sie beleidigen mich nicht. Sie sind misstrauisch, weil ich nicht lüge – wie der Rabbi nicht log.
Schauspielerin: Nun macht schon weiter! (Sie springt auf.) Jetzt interessiert es mich. (Der erste Schauspieler will sich widersetzen. Schauspielerin dreht ihm jedoch den Stuhl um. Schauspielerin und Sprecher gehen auf den ersten Schauspieler zu. Zweiter Schauspieler bleibt in Gedanken sitzen. Schauspielerin zum ersten Schauspieler:) Sprechen Sie, Sie hoher Offizier. Ich möchte wissen, was für eine Uniform sie tragen. Das möchte ich zunächst wissen.
… nicht zu viel hinter einzelnen biblischen und jüdischen Motiven vermuten, jedenfalls nichts hineingeheimnissen …
Wichtige Passagen des Theaterstücks „Korczak und die Kinder“ beziehen sich auf jüdische Religiosität. Insbesondere in der III. Szene wird Janus Korczak als Mensch jüdischen Glaubens gezeichnet. Sein Kampf gegen die Lüge wird mit seinem Glauben verknüpft.
Wir haben Professor Becker von der Theologischen Fakultät der Universität Göttingen gefragt, wie er das Verständnis des Judentums bei Sylvanus einschätzt. Wir geben hier seine Email vom 05.10.2017 auszugsweise und mit Fragen versehen wieder. Erwin Sylvanus scheint eher christlich denn jüdisch zu argumentieren – so lässt sich die Einschätzung zusammenfassen.
Im Theaterstück wird verschiedentlich auf jüdische Religiosität Bezug genommen. Hat sich Sylvanus intensiv mit dem Judentum auseinandergesetzt?
Prof. Becker: Ich habe insgesamt nicht den Eindruck gewonnen, als habe hier jemand aus einer vertieften Kenntnis des Judentums herausgeschrieben. Der Zaddik, der Rabbi sind als jüdische Charaktere nicht lebendig gezeichnet – sie erscheinen eher schematisch als Symbole für Frömmigkeit bzw. „das Gesetz“. Bei letzterem scheint mir eher Kafkas Legende „Vor dem Gesetz“ und ihre Auslegung im Zusammenhang des Prozess-Romans („Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht“) im Hintergrund zu stehen.
Hat das Verbot zu lügen eine besondere Bedeutung im Judentum?
Prof. Becker: Es gehört nicht zu den Hauptaufgaben eines Rabbis, jemanden zu lehren, nicht zu lügen. Dieses Gebot ist eines neben anderen. Im Stück wird überdies nicht klar, worin die mögliche „Lüge“ des Rabbi bestanden haben könnte. Dass nur ein Jude das verstehen können soll, erscheint mir als eine fast ärgerliche Mystifikation des Judentums.
Warum der Rabbi meint, er würde der Lüge bezichtigt, bleibt im Stück selbst unklar. Wenn Sie die spätere Rowohlt-Fassung dazu vergleichen, können Sie sehen, dass der Autor auch nicht zufrieden war: Der 2. Schauspieler muss dort noch das biblische Verbot der Bilderverehrung zitieren und sagen: „Die Uhr war uns zum Gleichnis geworden…“ Das macht es aber auch nicht besser.
Was ist dann der religiöse Hintergrund des Stückes?
Wo Sylvanus spezifisch jüdische Sätze aufnimmt, wirkt es weder organisch, noch so, als käme es aus einem reicheren jüdischen Erfahrungs- oder Wissensschatz … Die religiösen Deutungskategorien im Stück sind nicht spezifisch jüdisch, sondern biblisch: Verheißung an Abraham, Durchzug durchs Schilfmeer, Erweckung der Totengebeine. Wenn der Autor trotz der Aufnahme dieser zentralen biblischen Interpretamente des Geschehens dennoch der Meinung Ausdruck gibt, „Wahrheit“ gebe es nur jenseits der Religion (und Rasse und Nation), so erscheint mir das intellektuell inkonsistent.
In diesem Zusammenhang finde ich übrigens die schnodderige moralische Verunglimpfung der Kirche in Gestalt des Pastors unsäglich. Die Mitglieder der Bekennenden Kirche, und nicht nur sie, haben in den letzten Jahren des „Dritten Reichs“ Verfolgung und Tod auf sich genommen; etwas, das sich der Autor selbst offenbar erspart hat.
Ich würde also nicht zu viel hinter einzelnen biblischen und jüdischen Motiven vermuten, jedenfalls nichts hineingeheimnissen. …
Der Schluss mit dem Abschnitt aus dem Hesekielbuch ist sicher ein Hinweis auf den Staat Israel, der damit als Erfüllung der Abrahamsverheißung gesehen wird. Allerdings, möchte man dem Autor entgegenhalten, sind die individuellen Toten von Treblinka keineswegs wieder auferstanden.
Wir danken Professor Becker für seine Unterstützung!