Der Erste Schauspieler in „Korczak und die Kinder“

Der „Erste Schauspieler“ in „Korczak und die Kinder“ ist der „Leiter eines Einsatzkommandos“ – ein SS-Mann. Die SS-Einsatzkommandos waren berüchtigt – verantwortlich für die Massenvernichtung an Juden und Sinti. Sie liquidierten das Warschauer Ghetto und transportierten die jüdische Bevölkerung in das Vernichtungslager Treblinka. Gemessen an den Untaten der SS wirkt der „Leiter eines Eisatzkommandos“ fast harmlos. Zu harmlos?
Sylvanus lässt ihn seine Lebensgeschichte berichten – jenseits von NS und Terror. Der Leiter des Einsatzkommandos ist ein Kleinbürger. Er erzählt von seiner Jugend und von dem Hunger, für den er sich schämte. „Nicht der laute, knurrende Hunger, sondern der leise schleichende Hunger. Der Nierenfetthunger, möchte ich sagen. Der Hunger, den man als Kleinbürger verbirgt und nicht wahrhaben will.“ Zuhause warten seine Frau, zwei Kinder und der Hund Waldi. Er freut sich, dass Waldi ihn überschwänglich begrüßt. Er ist Antisemit. In seiner Jugend wollte er die Wahrheit sagen und nicht lügen. Bei der Hitler-Jugend lernte er zu lügen. Am Ende überredet er Janusz Korczak, seine Waisenkinder in das Vernichtungslager zu begleiten. Und er verstößt gegen seinen Befehl, als er die Betreuerinnen der Waisenkinder auf Bitte von Korczak verschont. Der alte Mann ist dem SS-Mann in dieser Gesprächssituation überlegen: „Will es mich denn nie freigeben, das Schämen? Es war wie damals, als ich immer Hemden tragen musste, die nicht passten. Weil sie aus den abgelegten Hemden meines Vaters geschneidert waren. Dieser Saujude, dieser dreimal verfluchte!“
Erwin Sylvanus schreibt, dass der Leiter des Einsatzkommandos bei den Inszenierungen in Ausland besonderes Interesse erweckt habe. Die Figur habe er wegen ei-ner Frage von Janusz Korczak geschrieben. Wenige Tage vor der Liquidierung des Ghettos beobachtete Korczak einen Soldaten im Hof des Waisenhauses und fragte sich, wie dieser junge Mann aufgewachsen sei.
Ist das eine Verharmlosung? In seinem Buch „Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager“ schreibt der Göttinger Wolfgang Sofsky: „Das organisierte Verbrechen war monströs, die Täter waren es nicht.“

Wer war Erwin Sylvanus?

Wer war Erwin Sylvanus? „In einem Menschen stecken viele Möglichkeiten,“ so betitelt Dorothea Potthoff ihren Text über Erwin Sylvanus (in: Vergänglich und unsterblich zwischen Rhein und Weser, 1998). Die Autorin hat mit Menschen sprechen können, die Sylvanus persönlich kannten. Entstanden ist eine dichte Beschreibung, die auch die NS-Zeit nicht auslässt.
1933 war Erwin Sylvanus – am 3. Oktober 1917 geboren – im 15. Lebensjahr. „Als das Dritte Reich kam,“ so schreibt er 1958 im Göttinger Programmheft zur Aufführung „Korczak und die Kinder“, „machte ich als Hitler-Junge zunächst mit – Fahrten, Zeltlager, Heimabende. Frühe schriftstellerische Versuche waren beeinflusst von den Schreibenden, die man uns damals als Dichter pries.“
Der junge Sylvanus ist produktiv, schreibt viel. Es erscheinen aber nur zwei Romane (Der ewige Krieg und Der Paradiesfahrer) während der NS-Zeit. Ihre literarische Qualität ist mäßig. Seine Arbeiten sind völkisch-national, verherrlichen „Blut und Boden“, das Bauerntum und den Krieg. Seine journalistischen Arbeiten stellt er in den Dienst der NSDAP. Schon in der Hitler-Jugend arbeitet er als „Pressewart“. 1941 tritt er der NSDAP bei, wie Hans Jürgen Hoeck 2013 entdeckt hat (Der Kunstring Soest 1935 -1961 eine nationalsozialistische Gründung und was daraus wurde).
Wer also war Erwin Sylvanus? Ein Geläuterter oder ein Schriftsteller, der sich neuen Verhältnissen anpasste? Dorothea Potthoff zitiert hier Tilly Wedekind. Die soll über die NS-Sympathien von Gottfried Benn gesagt haben: „In einem Menschen stecken viele Möglichkeiten.“ Nicht sehr beruhigend. Da lesen wir lieber, dass das „Werbe- und Beratungsamt für das deutsche Schrifttum beim Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda“ 1943 die Drucklegung einer Schrift von Sylvanus verhindert. Der Grund: Bei seiner Erzählung handele es sich um ein „verzerrtes Abbild gesunden kraftvollen Bauerntums“. Es scheint, als wäre Sylvanus den Nationalsozialisten nicht nationalsozialistisch genug.

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