“Wie ein Michael Kolhaas kämpfen” Erwin Sylvanus im Konflikt mit dem NS-Propagandaministerium

13 Stücke finden sich auf der Liste. Es ist eine Aufgabenliste, die Erwin Sylvanus 1944 notierte. Unbedingt wollte er seine Prosastücke veröffentlichen. Trotz seiner Mitgliedschaft in der NSDAP gelang dies allerdings nicht. Den propagandistischenMainstream der NS-Literatur bediente Sylvanus nicht.

Im Juli 1938 wurde Erwin Sylvanus mit 20 Jahren Mitglied der Reichsschrifttumskammer (RSK). Das war die Voraussetzung dafür, dass er publizieren konnte. Im März des gleichen Jahres war er aus dem Heeresdienst als dienstunfähig entlassen worden. Seine Lungenkrankheit war lebensbedrohlich. Sein Wunsch, Berufsschriftsteller zu werden, war zum einen aus dieser Not geboren. Weder Studium noch regelmäßige berufliche Tätigkeit waren möglich. Aber Schriftsteller wurde Sylvanus auch aus Berufung. Auf diesem Weg scheute er keine Konflikte.

 

Ein Feldzug mit kuriosen Zügen

„Ich verspreche Ihnen, dass ich, wenn es sein muss, wie ein Michael Kohlhaas um mein Recht kämpfen werde und dass ich alle möglichen Stellen in Bewegung setzen werde, um es zu erhalten, “ so drohte er im August 1943. Adressat war das Werbe- und Beratungsamt für das deutsche Schrifttum in Berlin – eine nachgeordnete Behörde des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda von Joseph Goebbels.

Die literarische Figur des Michael Kohlhaas steht für einen Menschen, der einen Rachefeldzug startet, als er mit einem gerechten Anliegen kein Gehör findet. Warum ist der angehende Schriftsteller 1943 so empört, dass er sich mit einer Behörde des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda anlegt?

Suche nach Verlagen

Seit 1941 konzentrierte sich Sylvanus ganz auf seine Schriftstellerei und ließ den Journalismus zunächst hinter sich. Die Suche nach Verlagen für seine Erzählungen und Novellen war schwierig. In seinen Notizbüchern finden sich Listen mit Verlagen, die er angeschrieben hatte, und in seiner Korrespondenz viele Absagen. 12 Erzählungen und einen Gedichtband verfasste er bis 1944, und für fast alle Werke fand er schließlich einen Verlag. Bis 1945 sollten aber nur zwei der Erzählungen veröffentlicht werden.

Edwin Runge Verlag, Berlin

Die Erzählung „Meme“ wollte der Edwin Runge Verlag aus Berlin veröffentlichen. Inhaber des Verlags war der Geograph Arnold Hillen-Ziegfeld, seit 1921 Mitglied der NSDAP und Agitator im Deutsch völkischen Schutz- und Trutzbund. Doch auch diese Verbindungen solltem dem Verleger nicht nützen. Für den Druck des Werks von Sylvanus erhielt er keine Genehmigung auf „Zivilpapier“, das seit Beginn des Krieges rationiert war. Zuständig für diese Anträge war das Werbe- und Beratungsamt für das deutsche Schrifttum. Für seine Referentin [Käthe?] Bitschkowski gab die vorgelegte Erzählung ein „verzerrtes Abbild gesunden Bauerntums“. Nun, worum ging es in „Meme“?

Meme

Die Geschichte ist schnell erzählt. „Meme“ ist eine Geschichte unglücklicher Liebe und Sehnsucht. Peter Bontje, Sohn eines wohlhabenden Großbauern, verliebt sich in Meme, Tochter einer armen Kärtnerin. „Ich habe eine süße Sehnsucht in der Brust und in den Gliedern, und ich denke gerne an den Tod und an junge Fohlen und an den Kiebitzschrei im Sommer. Ich denke immer wieder das Gleiche, und die Sehnsucht wird immer süßer und süßer. Ich kann es nicht mehr aushalten vor Sehnsucht. Und ich gehe in den Nächten aus und streife durch die Wiesen und schieße Enten und stehe vor deinem Hause, Meme.“ Diese Worte legt Sylvanus dem jungen Bauern in den Mund, der schließlich im Moor verschwindet – nicht ohne sich zuvor schwer selbst verletzt zu haben: „Und als er schoß, schoß er sich in den Unterleib. Und es war kein Schrot in der Flinte, sondern sie war scharf geladen.“

Fehlurteil?

Es beeindruckte Erwin Sylvanus aber keinesfalls. Er hielt es aus verschiedenen Gründen für ein Fehlurteil. Er stamme selbst aus dem Bauerntum. Prof. Otto Modersohn habe ihm die Geschichte von dem Jungbauern erzählt. Sie beruhe auf Tatsachen. Clara Rilke-Westhoff, Bildhauerin, Malerin und Ehefrau von Reiner Maria Rilke, habe seine Erzählung für gut befunden. Die Geschichte sei einem „Kampfflieger, der das deutsche Kreuz in Gold trägt“, gewidmet. Und überhaupt: Er als beschädigter junger Soldat könne anderes erwarten.

Michael Kohlhaas?

Sylvanus ließ sich von der Ablehnung nicht abschrecken. Und seine Drohung wirkte. Er bekam ein weiteres Gutachten. Das Gutachten war vernichtend: „Die Übersteigerung des Lyrischen, das heißt der Gefühlsmomente, wirkt, je weiter man liest, umso wunderlicher und schließlich komisch, bis zum Schluss ein peinlicher Geschmack auf der Zunge bleibt.“ Aber auch jetzt ließ der junge Autor nicht locker: Ob er denn seine Erzählung veröffentlichen könne, wenn der Krieg beendet und Papier nicht mehr rationiert werde? „Eine Empfehlung von Ihnen will ich ja gar nicht, doch will ich eine dauernde und allgemeinere Kritik als die doch jedenfalls sehr zufällige des ein oder anderen Referenten.“

 

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Erwin Sylvanus war kein großer Erfolg als Schriftsteller beschieden. Der Literaturwissenschaftler Walter Gödden kommt zu dem Urteil: „Die literarische Qualität der Erstlingswerke ist überaus mäßig und steht keineswegs auf der Höhe der Zeit.“ Auch das Aufrufen völkischer Themen wie Bauerntum und ländliches Leben – das zeigt die Erzählung „Meme“ – führen nicht zur Akzeptanz bei der NS-Kulturbürokratie. Im Wege steht dem jungen Autor die Emotionalität seiner Darstellung. Auch die ist uns heute fremd. Festzuhalten bleibt, dass seine Erzählungen frei von antisemitischem Ressentiment sind.

 

Drei Fragen an David Dowdey

David Dowdey ist Professor für German Studies an der privaten Universität Pepperdine in Malibu. Er hat für uns drei Fragen zum Hörspiel „Leo Baeck“ von Erwin Sylvanus beantwortet. Ein herzlicher Dank geht über den großen Teich!

Frage: Sie haben zusammen mit Wolfgang Rhée das Hörspiel „Leo Baeck“ von Erwin Sylvanus ins Englische übersetzt und 1996 herausgegeben. Hat das Hörspiel dazu geführt, dass Leo Baeck, einer der bedeutendsten Vertreter des deutschen Judentums in den USA bekann-ter geworden ist?
David Dowdey: Ich hoffe. Ich kann nur vermuten. Das Holocaust-Museum in Washington DC hat mich einmal um die Erlaubnis gebeten, Material von dem Baeck-Buch in einer Ausstellung über Leo Baeck zu benutzen.

Frage: Wir wissen heute, dass Erwin Sylvanus stärker mit dem Nationalsozialismus identifiziert war, als er es später darstellte. Noch 1941 trat er in die NSDAP ein. Verändert dieses Wissen Ihren Blick auf das Hörspiel „Leo Baeck“?
David Dowdey: Eigentlich nicht. Ich betrachte das Spiel als Sylvanus‘ Versuch, menschlicher und humaner zu werden. Vielleicht war es eine Art „Vergangenheitsbewältigung“ für ihn. Dürfen wir auch sagen, es war eine Art Sühne für seine Vergangenheit?

Frage: Zum 50. Jahrestag der Novemberpogrome wurde 1988 eine Kurzfassung in Los Angeles Ihrer Übersetzung auf die Bühne gebracht. Ist das Stück heute noch geeignet, um an den nun 80. Jahrestag zu erinnern oder hat es sich überlebt?
David Dowdey: Ich glaube und hoffe, es ist noch heute geeignet, um an den 80. Jahrestag der Novemberpogrome zu erinnern. Wie ich in meinem Vorwort geschrieben habe (S.19), war es offensichtlich Sylvanus‘ Absicht, dass das deutsche Publikum sich mit diesem Thema auseinandersetzen soll. Heute im Hinblick auf die Gefahr des verbreitenden Vergessens, besonders hierzulande—eine Statistik berichtet, dass ca. 41% der Jugendlichen glauben, weniger als eine Million sind im Holocaust gestorben — ist es dringend nötig, an einen solchen Jahrestag zu erinnern. Die Menschheit, nicht nur die Deutschen, muss sich mit diesem Thema auseinandersetzen. Es gibt derzeitig eine Ausstellung in Washington DC mit dem Titel GEGEN DAS VERGESSEN. Die Ausstellung zeigt 120 übergroße Portraits. In einem Schreiben des Auswärtigen Amtes heißt es, „Die Gesichter sehen den Betrachter direkt an, als wollten sie jeden Einzelnen von uns in die Pflicht nehmen: Nie wieder.“
Erwin Sylvanus, Leo Baeck. A Radio Play Based on Authentic Texts. Edited and Trans-lated by David Dowdey an Robert Wolfgang Rhée, New York et.a. 1996.

 

seaver.pepperdine.edu
Faculty at Pepperdine University Seaver College

Erwin Sylvanus: „Anlage zu einem Brief an den Papst“

 
Die kurze Erzählung, von der wir hier bereits einen Ausschnitt veröffentlicht haben, findet sich im Nachlass von Erwin Sylvanus in der Stadt- und Landesbibliothek Dortmund. Der Titel ist kryptisch: „Anlage zu einem Brief an den Papst“. Was hat Janusz Korczak mit dem Papst zu tun?
 
Die Verbindung zwischen beiden Personen scheint zunächst nur rein zufällig zu sein. An dem Tag, als Erwin Sylvanus 1978 durch die Straßen des ehemaligen Warschauer Ghettos ging, wurde der Pole Karol Józef Wojtyła zum Papst gewählt. Im Verlauf der Erzählung kommt aber eine weitere Verbindung hinzu: Es geht um das Schicksal eines katholischen 15-Jährigen, der sich nach dem Kinderbuch von Janusz Korczak Macius nennt. „Ein Papst der Liebe, ein Papst aus Polen,“ riefen sich die Menschen auf den Straßen zu, als Johannes Paul II. gewählt worden war. Macius aus dem westfälischen Dorf sollte von dieser Liebe nichts spüren.
 
Der Autor berichtet von seiner Begegnung mit Macius. „Eine sanfte, porzellanene Röte hatte dem zarten Gesicht eine Anmut gegeben, die mich zweifeln ließ, ob der Name Macius für ihn gut gewählt war. Auch ich liebte den Kinderkönig Macius. Dieser Junge hier würde nur leiden können und nie regieren. Nicht einmal in seinen Träumen. Da er sich aber zu diesem Namen bekannte, wollte ich ihn nicht bezweifeln und verließ mit Macius die Apotheke. Draußen fragte er mich mehr nach dem neuen Papst als nach Janusz Korczak. „Ich habe ihn doch gar nicht gesehen. Er war in Rom.“
 
Macius ist katholisch und er ist Ministrant. Er assistiert dem katholischen Priester bei der Messe. Der Autor trifft den Jungen wieder auf der Allerheiligenkirmes in der nahen Kreisstadt Soest. Macius ist mit einem Freund unterwegs. „Der Begleiter war kerniger von Gestalt. Sein Gesicht dunkler. Sein Haar freilich – er trug es lockig wie Macius – unterschied sich nur in seiner verhaltenen Brauntönung vom Gold seines wohl gleichaltrigen Begleiters.“
 
Ein Jahr später erzählt ihm die Nachbarin von einem jugendlichen Selbstmörder, ein frommer und freundlicher Junge. Und niemand wisse, warum er sich umgebracht habe. Man habe ein Buch bei ihm gefunden, in dem Zeitungsartikel über den neuen Papst gesammelt habe. Seine letzte Rede, die er 1979 in Amerika hielt, sei noch eingeklebt worden vor dem Selbstmord.
 
Der Autor weiß, warum sich Macius tötete: Er habe es in bitterer, auswegloser Verzweiflung getan.
Der Autor kennt den Inhalt der amerikanischen Rede von Johannes Paul II.
 
„Diese Rede, die unzählige enttäuschte, jene, die auf einen Papst der Liebe, der Güte und des Verstehens gehofft hatten, einen aus Polen stammenden, einen marianischen Papst. Christus hätte nicht – nachträglich noch – jene mit Worten gegeißelt, die in die Konzentrationslager getrieben wurden als die Verachtesten und Verworfensten. Zu den Herrenmenschen hätten sie gehören können, den Bevorzugten, von der Vorsehung herausgehobenen an Adel und Wert – aber sie beschmutzten und besudelten ihre Ehre und die ihres Volkes vor den eiskalten Augen ihrer menschenschändenden Verfolger, diese Männer mit dem Rosa Winkel.
Nun war aus Amerika zu hören gewesen, diese Liebenden bleiben auch den Christen ein Gräuel, sie verletzten die Ehre des Gottessohnes und seiner holdseligen Mutter.“