Konversion

Christina von Hodenberg im Gespräch mit Barbara Schäfer

Die Historikerin Christina von Hodeberg wirft einen anderen Blick auf die 68er. Sie hat eine tolle Quelle gefunden: Eine Bonner Längsschnittstudie des Alterns, die von 1965 bis in die 80er Jahre durchgeführt wurde. 3.000 Stunden Interviews!
Und sie hatte Probleme, die wir auch diskutieren: Die Verstrickung der damaligen Wissenschaftler in den Nationalsozialismus. Sie führt den interessanten Begriff der „Konversion“ ein:

„von Hodenberg: Nein, an dem Material habe ich nicht gezweifelt, ich war auch eigentlich gar nicht erstaunt, dass es eine nationalsozialistische Verstrickung gab, denn bei fast allen Leuten und auch Wissenschaftlern dieses Alters in dieser Zeit war das so, wenn man genauer hinschaut. Es ist eigentlich entscheidender, inwiefern und wie glaubwürdig dann diese Leute zur Demokratie konvertiert sind. Und man darf ihnen ja auch nicht absprechen, dass dies oft echte Konversionen waren. Und bei Thomae würde ich jetzt nach auch seinen Schriften nach 1945 sagen, dass er sich in der Tat umorientiert hatte und dann auch liberal war.“

 

deutschlandfunk.de
Im Blick auf die 68er-Jahre werde die Rolle der Frauen oft wenig beachtet,…

“Wie ein Michael Kolhaas kämpfen” Erwin Sylvanus im Konflikt mit dem NS-Propagandaministerium

13 Stücke finden sich auf der Liste. Es ist eine Aufgabenliste, die Erwin Sylvanus 1944 notierte. Unbedingt wollte er seine Prosastücke veröffentlichen. Trotz seiner Mitgliedschaft in der NSDAP gelang dies allerdings nicht. Den propagandistischenMainstream der NS-Literatur bediente Sylvanus nicht.

Im Juli 1938 wurde Erwin Sylvanus mit 20 Jahren Mitglied der Reichsschrifttumskammer (RSK). Das war die Voraussetzung dafür, dass er publizieren konnte. Im März des gleichen Jahres war er aus dem Heeresdienst als dienstunfähig entlassen worden. Seine Lungenkrankheit war lebensbedrohlich. Sein Wunsch, Berufsschriftsteller zu werden, war zum einen aus dieser Not geboren. Weder Studium noch regelmäßige berufliche Tätigkeit waren möglich. Aber Schriftsteller wurde Sylvanus auch aus Berufung. Auf diesem Weg scheute er keine Konflikte.

 

Ein Feldzug mit kuriosen Zügen

„Ich verspreche Ihnen, dass ich, wenn es sein muss, wie ein Michael Kohlhaas um mein Recht kämpfen werde und dass ich alle möglichen Stellen in Bewegung setzen werde, um es zu erhalten, “ so drohte er im August 1943. Adressat war das Werbe- und Beratungsamt für das deutsche Schrifttum in Berlin – eine nachgeordnete Behörde des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda von Joseph Goebbels.

Die literarische Figur des Michael Kohlhaas steht für einen Menschen, der einen Rachefeldzug startet, als er mit einem gerechten Anliegen kein Gehör findet. Warum ist der angehende Schriftsteller 1943 so empört, dass er sich mit einer Behörde des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda anlegt?

Suche nach Verlagen

Seit 1941 konzentrierte sich Sylvanus ganz auf seine Schriftstellerei und ließ den Journalismus zunächst hinter sich. Die Suche nach Verlagen für seine Erzählungen und Novellen war schwierig. In seinen Notizbüchern finden sich Listen mit Verlagen, die er angeschrieben hatte, und in seiner Korrespondenz viele Absagen. 12 Erzählungen und einen Gedichtband verfasste er bis 1944, und für fast alle Werke fand er schließlich einen Verlag. Bis 1945 sollten aber nur zwei der Erzählungen veröffentlicht werden.

Edwin Runge Verlag, Berlin

Die Erzählung „Meme“ wollte der Edwin Runge Verlag aus Berlin veröffentlichen. Inhaber des Verlags war der Geograph Arnold Hillen-Ziegfeld, seit 1921 Mitglied der NSDAP und Agitator im Deutsch völkischen Schutz- und Trutzbund. Doch auch diese Verbindungen solltem dem Verleger nicht nützen. Für den Druck des Werks von Sylvanus erhielt er keine Genehmigung auf „Zivilpapier“, das seit Beginn des Krieges rationiert war. Zuständig für diese Anträge war das Werbe- und Beratungsamt für das deutsche Schrifttum. Für seine Referentin [Käthe?] Bitschkowski gab die vorgelegte Erzählung ein „verzerrtes Abbild gesunden Bauerntums“. Nun, worum ging es in „Meme“?

Meme

Die Geschichte ist schnell erzählt. „Meme“ ist eine Geschichte unglücklicher Liebe und Sehnsucht. Peter Bontje, Sohn eines wohlhabenden Großbauern, verliebt sich in Meme, Tochter einer armen Kärtnerin. „Ich habe eine süße Sehnsucht in der Brust und in den Gliedern, und ich denke gerne an den Tod und an junge Fohlen und an den Kiebitzschrei im Sommer. Ich denke immer wieder das Gleiche, und die Sehnsucht wird immer süßer und süßer. Ich kann es nicht mehr aushalten vor Sehnsucht. Und ich gehe in den Nächten aus und streife durch die Wiesen und schieße Enten und stehe vor deinem Hause, Meme.“ Diese Worte legt Sylvanus dem jungen Bauern in den Mund, der schließlich im Moor verschwindet – nicht ohne sich zuvor schwer selbst verletzt zu haben: „Und als er schoß, schoß er sich in den Unterleib. Und es war kein Schrot in der Flinte, sondern sie war scharf geladen.“

Fehlurteil?

Es beeindruckte Erwin Sylvanus aber keinesfalls. Er hielt es aus verschiedenen Gründen für ein Fehlurteil. Er stamme selbst aus dem Bauerntum. Prof. Otto Modersohn habe ihm die Geschichte von dem Jungbauern erzählt. Sie beruhe auf Tatsachen. Clara Rilke-Westhoff, Bildhauerin, Malerin und Ehefrau von Reiner Maria Rilke, habe seine Erzählung für gut befunden. Die Geschichte sei einem „Kampfflieger, der das deutsche Kreuz in Gold trägt“, gewidmet. Und überhaupt: Er als beschädigter junger Soldat könne anderes erwarten.

Michael Kohlhaas?

Sylvanus ließ sich von der Ablehnung nicht abschrecken. Und seine Drohung wirkte. Er bekam ein weiteres Gutachten. Das Gutachten war vernichtend: „Die Übersteigerung des Lyrischen, das heißt der Gefühlsmomente, wirkt, je weiter man liest, umso wunderlicher und schließlich komisch, bis zum Schluss ein peinlicher Geschmack auf der Zunge bleibt.“ Aber auch jetzt ließ der junge Autor nicht locker: Ob er denn seine Erzählung veröffentlichen könne, wenn der Krieg beendet und Papier nicht mehr rationiert werde? „Eine Empfehlung von Ihnen will ich ja gar nicht, doch will ich eine dauernde und allgemeinere Kritik als die doch jedenfalls sehr zufällige des ein oder anderen Referenten.“

 

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Erwin Sylvanus war kein großer Erfolg als Schriftsteller beschieden. Der Literaturwissenschaftler Walter Gödden kommt zu dem Urteil: „Die literarische Qualität der Erstlingswerke ist überaus mäßig und steht keineswegs auf der Höhe der Zeit.“ Auch das Aufrufen völkischer Themen wie Bauerntum und ländliches Leben – das zeigt die Erzählung „Meme“ – führen nicht zur Akzeptanz bei der NS-Kulturbürokratie. Im Wege steht dem jungen Autor die Emotionalität seiner Darstellung. Auch die ist uns heute fremd. Festzuhalten bleibt, dass seine Erzählungen frei von antisemitischem Ressentiment sind.

 

Fundstücke aus dem Archiv. „Die Lautsprecher haben das führende Wort.“

1958 interviewte Joseph Wulf, der Pionier der Holocaustforschung in der Bundesrepublik, Erwin Sylvanus für die israelische Zeitung „DAVAR“. Wulf befragte den Autor von „Korczak und die Kinder“ nach seinen Gefühlen im Nationalsozialismus. Sein Freund Helmuth Fischbach habe ihn bereits vor 1945 mit verbotener Literatur, insbesondere mit Thomas Mann, bekannt gemacht, berichtete Sylvanus. Im Westfälischen Literaturarchiv in Münster haben wir nun ein Schreiben von Helmuth Fischbach gefunden, das eine kritische Haltung belegt. Auf verbotene Literatur aber verweist es nicht.

Der Brief datiert vom 7. Mai 1943. Fischbach war wegen einer wieder akuten Nierenerkrankung aus dem Wehrdienst entlassen worden. Nun arbeitete er als Dramaturg bei der Wien-Film in Wien. Das Unternehmen, das 1938 aus einem Zwangsverkauf entstanden war, wurde von der NS-Reichsfilmkammer kontrolliert. Es produzierte sämtliche Filme in Österreich und betrieb die meisten Kinos.

„9/10 der Zeit“; so beschreibt Fischbach seine Arbeit als Dramaturg, „geht mit dem Lesen, Prüfen und Beurteilen der Excremente geistig Minderbemittelter drauf. … Ich jedenfalls habe die Erfahrung gemacht, dass anstelle der Musen die Lautsprecher das führende Wort haben und jene allen Parolen zum Trotz zum Schweigen verurteilt sind. Wo sind unsere Dichter? … Wo nicht ihre Werke im Verborgenen reden würden, man müsste annehmen, dass unter uns Heutigen kaum noch jemand lebt, der etwas Entscheidendes und Wichtiges zu sagen hätte.“

Aus Sicht von Fischbach ist an die Stelle der Literatur die Propaganda getreten, obwohl die NS-Kulturpolitik anderes versprach. Als zum Schweigen Verurteilte nennt er vier heute weitgehend unbekannte Schriftsteller: den Lyriker Hans Carossa, den Romanautor Erwin Guido Kolbenheyer, den österreichischen Dichter Josef Weinheber und den preußische Pietist Ernst Wiechert.

Zur im NS verbotenen Literatur gehörte allerdings keiner der vier Autoren. Selbst die Bücher des nationalkonservativen Ernst Wiecherts, der der inneren Emigration zugeordnet, wurden viel gelesen. Carossa, Kolbenheyer und Weinheber waren offene Befürworter des Nationalsozialismus. Es ist natürlich nicht ausgeschlossen, dass Helmuth Fischbach auch Thomas Mann kannte. Leider wissen wir (noch) nicht mehr von ihm.

Die Wien-Film GmbH war eine große österreichische Filmproduktionsgesellschaft, die 1938 aus der Tobis-Sascha-Filmindustrie AG hervorging und bis 1985 bestand. Das Unternehmen befand sich bis 1945 im Besitz der der deutschen Reichsfilmkammer unterstehenden Cautio Treuhandgesellschaft und zeichnete …

Erwin Sylvanus: „Anlage zu einem Brief an den Papst“

 
Die kurze Erzählung, von der wir hier bereits einen Ausschnitt veröffentlicht haben, findet sich im Nachlass von Erwin Sylvanus in der Stadt- und Landesbibliothek Dortmund. Der Titel ist kryptisch: „Anlage zu einem Brief an den Papst“. Was hat Janusz Korczak mit dem Papst zu tun?
 
Die Verbindung zwischen beiden Personen scheint zunächst nur rein zufällig zu sein. An dem Tag, als Erwin Sylvanus 1978 durch die Straßen des ehemaligen Warschauer Ghettos ging, wurde der Pole Karol Józef Wojtyła zum Papst gewählt. Im Verlauf der Erzählung kommt aber eine weitere Verbindung hinzu: Es geht um das Schicksal eines katholischen 15-Jährigen, der sich nach dem Kinderbuch von Janusz Korczak Macius nennt. „Ein Papst der Liebe, ein Papst aus Polen,“ riefen sich die Menschen auf den Straßen zu, als Johannes Paul II. gewählt worden war. Macius aus dem westfälischen Dorf sollte von dieser Liebe nichts spüren.
 
Der Autor berichtet von seiner Begegnung mit Macius. „Eine sanfte, porzellanene Röte hatte dem zarten Gesicht eine Anmut gegeben, die mich zweifeln ließ, ob der Name Macius für ihn gut gewählt war. Auch ich liebte den Kinderkönig Macius. Dieser Junge hier würde nur leiden können und nie regieren. Nicht einmal in seinen Träumen. Da er sich aber zu diesem Namen bekannte, wollte ich ihn nicht bezweifeln und verließ mit Macius die Apotheke. Draußen fragte er mich mehr nach dem neuen Papst als nach Janusz Korczak. „Ich habe ihn doch gar nicht gesehen. Er war in Rom.“
 
Macius ist katholisch und er ist Ministrant. Er assistiert dem katholischen Priester bei der Messe. Der Autor trifft den Jungen wieder auf der Allerheiligenkirmes in der nahen Kreisstadt Soest. Macius ist mit einem Freund unterwegs. „Der Begleiter war kerniger von Gestalt. Sein Gesicht dunkler. Sein Haar freilich – er trug es lockig wie Macius – unterschied sich nur in seiner verhaltenen Brauntönung vom Gold seines wohl gleichaltrigen Begleiters.“
 
Ein Jahr später erzählt ihm die Nachbarin von einem jugendlichen Selbstmörder, ein frommer und freundlicher Junge. Und niemand wisse, warum er sich umgebracht habe. Man habe ein Buch bei ihm gefunden, in dem Zeitungsartikel über den neuen Papst gesammelt habe. Seine letzte Rede, die er 1979 in Amerika hielt, sei noch eingeklebt worden vor dem Selbstmord.
 
Der Autor weiß, warum sich Macius tötete: Er habe es in bitterer, auswegloser Verzweiflung getan.
Der Autor kennt den Inhalt der amerikanischen Rede von Johannes Paul II.
 
„Diese Rede, die unzählige enttäuschte, jene, die auf einen Papst der Liebe, der Güte und des Verstehens gehofft hatten, einen aus Polen stammenden, einen marianischen Papst. Christus hätte nicht – nachträglich noch – jene mit Worten gegeißelt, die in die Konzentrationslager getrieben wurden als die Verachtesten und Verworfensten. Zu den Herrenmenschen hätten sie gehören können, den Bevorzugten, von der Vorsehung herausgehobenen an Adel und Wert – aber sie beschmutzten und besudelten ihre Ehre und die ihres Volkes vor den eiskalten Augen ihrer menschenschändenden Verfolger, diese Männer mit dem Rosa Winkel.
Nun war aus Amerika zu hören gewesen, diese Liebenden bleiben auch den Christen ein Gräuel, sie verletzten die Ehre des Gottessohnes und seiner holdseligen Mutter.“

Die Einsiedelei am Engelslieth

1952 begann Erwin Sylvanus in Völlinghausen am Möhnesee mit dem Bau eines Hauses. Es ist das Dorf, in dem ich selbst aufgewachsen bin. Das Bild zeigt, dass Sylvanus gegenüber des Altdorfs einen Bauplatz gefunden hatte. Engelslieth – so heißt die Straße noch heute.

Mit Engeln hat der Name nichts zu tun. Engelich steht mundartlich für eng und schmal. So bedeutet Engelslieth schmaler, enger Weg. Und in der Tat führt nur ein schmaler Weg den Berg hinauf, der gegenüber dem Altdorf liegt und durch den Fluss Möhne von ihm getrennt ist.

Sein Arzt hatte ihm geraten, das nahegelegene Soest zu verlassen. Des Klimas wegen. Eine Einsiedelei sollte es sein. Aber schon bald wurden weitere Neubauten errichtet. Das Dorf holte den Schriftsteller ein. Und er sollte sich dann auch immer mal wieder mit diesem katholischen Dorf und seinen Wandlungen auseinandersetzen.

Eine Einsiedlei errichtete er trotzdem. Auf dem großen Grundstück ließ er viele Bäume pflanzen, die Einsicht zu seinem Haus verwehrten.

Erwin Sylvanus blieb eine Irritation für die Völlinghäuser, die auch heute noch zwischen Zugezogenen und den alteingesessenen Polbürgern unterscheiden.

Polbürger hatten vor Urzeiten eine wichtige Bedeutung bei dem Abschreiten der Grenzen der Dorfgemarkungen: Sie wurden mit dem Hinterteil fest auf die harte Grenzmarke „aufgetitscht“. So sollten sie sich die Dorfgrenzen besser merken.

Bei meinen Eltern sind übrigens eine alteingesessene Familie des Dorfes mit einer Familie von Ausgebombten zusammengekommen. Und so wurde aus der Einsiedelei auch eine neue eng bebaute Siedlung: Nach dem Zweiten Weltkrieg verdoppelte sich die Einwohnerzahl Völlinghausens durch Vertriebene und Familienen, deren Zuhause von Bomben zerstört worden war. Viele von ihnen bauten in der neuen Siedlung.

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Bild könnte enthalten: eine oder mehrere Personen, Brille, Himmel, Hut, Baum, im Freien und Nahaufnahme

Landesrabbiner Dr. Paul Holzer

Ulrike Witt hat einen Link geteilt.

Neuigkeiten aus dem Archiv!

Wir suchten Menschen im Umfeld von Erwin Sylvanus, die ihm vom Holocaust hätten berichten können. Die ihm vielleicht bei „Korczak und die Kinder“ geholfen haben. Joseph Wulf, der „Pionier der Holocaustforschung in der Bundesrepublik“, war es nicht. Seine Korrespondenz mit Erwin Sylvanus begann erst nach der Veröffentlichung von „Korczak und die Kinder“, haben wir festgestellt.

In der Dortmunder Landes- und Stadtbibliothek haben wir eine neue Spur gefunden. Am 22. Mai 1957 antwortet der Landesrabbiner von Westfalen, Dr. Paul Holzer (1892-1975) auf ein Schreiben von Erwin Sylvanus. Es scheint um das Theaterstück „Korczak und die Kinder“ zu gehen, das seit April 1957 dem Theaterverlag Rowohlt vorlag. Holzer schreibt: „Des öfteren schon habe ich an Sie gedacht und mich gefragt, ob Sie wohl die Veröffentlichung von der Sie z.Zt. gesprochen haben, auch gemacht haben … Herzlich bin ich bereit, den Beitrag, den Sie drucken lassen wollen, vorher mit Ihnen durchzugehen.“

Er würde sich sehr freuen, wenn Sylvanus am Samstag, den 2. Juni kommen und am Gottesdienst teilnehmen wolle. Nur – es sei an diesem Tag nicht möglich, den Beitrag durchzusehen, da Sabbat sei. Erwin Sylvanus – das zeigt der Briefwechsel – war mit jüdischer Religiosität wenig vertraut.

Interview mit Walter Gödden

Prof. Dr. Walter Gödden ist Spezialist für westfälische Literatur. Er führt die Geschäfte der Literaturkommission für Westfalen und leitet das Museum für Westfälische Literatur Haus Nottbeck. 2002 erschien sein Artikel „Hinweise auf Erwin Sylvanus‘ Korczak und die Kinder“. Im Interview mit unserer Initiative äußert er sich zu Erwin Sylvanus und seiner Bedeutung für die Literatur in Westfalen.

Frage: Herr Gödden, Sie haben sich bislang am intensivsten mit Erwin Sylvanus auseinandergesetzt. Wer war Erwin Sylvanus?

Walter Gödden: Ich möchte hier nicht die äußeren Lebensdaten Sylvanus‘ aufzählen – das finden Sie in lexikalischen Kompendien. Für mich zählte Sylvanus zu den interessantesten westfälischen Autoren der 1950er und 1960er Jahre. Schon deshalb, weil er sich immer wieder neu erfand. Ich meine damit auch sein anfängliches Grenzgängertum zwischen Journalismus und Literatur. Als Journalist hat er – hinter den Kulissen sozusagen – in seiner Zeit als Kulturredakteur bei der renommierten Zeitschrift Westfalenspiegel maßgeblichen Anteil an einer Reform der westfälischen Literatur ab Mitte der 1950er Jahre. Das betrifft nicht zuletzt die Jury des Droste-Hülshoff-Preises, bei der ein abstrakter Autor wie Ernst Meister plötzlich eine Chance bekam. Interessiert hat mich auch die Zusammenarbeit Sylvanus‘ mit dem Regisseur und Dramaturgen Hans Dieter Schwarze, die dann zum Korczak-Stück führte. Über die späteren Jahre bin ich weniger gut informiert. Da spielte Sylvanus für die hiesige Literatur keine größere Rolle mehr.

Frage: Können Sie erklären, wie und warum sich Sylvanus von der NS-Heimatdichtung abgewandt hat?

Walter Gödden: Nach 1945 gab es in der westfälischen Literatur keine „Stunde null“. Die alten Kräfte hatten die Literaturförderung bald wieder in der Hand. Dazu zählten auch NS-belastete Heimatdichter, die im Dritten Reich Blut- und Bodenromane geschrieben hatten. Sylvanus hat damals – auch aus moralischen, ethischen und politischen Gründen – erkannt, dass sich die Literatur neu orientieren musste. Es gab ja beispielsweise die Gruppe 47, es gab Böll und auf westfälischer Seite einen Paul Schallück. Das waren politisch und kulturell aufgeschlossene, demokratisch denkende Menschen, die einen offenen Kulturbegriff vertraten. In diesem Umfeld fand Sylvanus eine neue „geistige Heimat“, wenn ich das einmal so pathetisch ausdrücken darf. Und er konnte hier, wie erwähnt, selbst viel bewegen. Ohne ihn hätte es die literarische Moderne in Westfalen nach 1945 schwerer gehabt. Er war ein wichtiger und durchaus auch einflussreicher Fürsprecher.

Frage: Das Theaterstück „Korczak und die Kinder“ wurde nach seiner Uraufführung in Krefeld meistenteils kritisch rezensiert. Es wurde in Frage gestellt, ob die Ermordung der europäischen Juden überhaupt auf der Bühne behandelt werden dürfe. Warum hatte das Stück dennoch später so großen nationalen und internationalen Erfolg?

Walter Gödden: Die im Stück geschilderte Ermordung der Kinder lässt – über alles Politische hinweg – niemanden kalt. Es rührt unsere Emotionen an. Als ich das Hörspiel bei einer Veranstaltung vorgestellt habe und die entsprechenden Stellen aus Korczaks Tagebuch vorgelesen habe, konnte ich einfach nicht weiterlesen, so hat es mich ergriffen. Es ist wohl die Verbindung zwischen brutaler politischer Macht auf der einen und humanem Handeln auf der anderen Seite, die anrührt und zur Reflexion anregt. Ein Dokument des Pazifismus also, der stärker ist als alle politischen Systeme. Insofern konnte es auch überall auf der Welt gespielt werden.

Rainer Marie Rilke, Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Rilke

Als Mahl beganns. Und ist ein Fest geworden, kaum weiß man wie. Die hohen Flammen flackten, die Stimmen schwirrten, wirre Lieder klirrten aus Glas und Glanz, und endlich aus den reifgewordenen Takten: entsprang der Tanz. Und alle riß er hin. Das war ein Wellenschlagen in den Sälen, ein Sich-Begegnen und ein Sich-Erwählen, ein Abschiednehmen und ein Wiederfinden, ein Glanzgenießen und ein Lichterblinden und ein Sich-Wiegen in den Sommerwinden, die in den Kleidern warmer Frauen sind.

Aus dunklem Wein und tausend Rosen rinnt die Stunde
rauschend in den Traum der Nacht.

Interview mit Friedrich Kröhnke

In der Novelle „Die Weise von Liebe und Tod“ portraitierte der Schriftsteller Friedrich Kröhnke den alternden, erblindenden Sylvanus. Wir haben uns hier schon mit der Erzählung beschäftigt.

Der Berliner Autor hat nun drei Fragen für uns beantwortet.

Herr Kröhnke, in Ihrer Erzählung „Die Weise von Liebe und Tod“ zeichnen Sie das Bild eines alten, erblindenden Schriftstellers, der einsam nur noch immergleiche Monologe halten kann. Er wohnt in einem klammen, feuchten Hause. Er hat Geld, aber er weiß nicht, damit gut zu leben. Er braucht Hilfe, aber er kann sie nicht annehmen. Es ist Erwin Sylvanus. Wie viel Wirklichkeit steckt in Ihrer Erzählung?

Friedrich Kröhnke: Ich habe ihn erlebt, ich habe das erlebt. Wenn meine Erzählung auch gestaltet ist, kunstvoll, wie Literatur sein soll – und ich mag den Text von 1988 heute noch sehr, und andere schätzen ihn, und sogar ein Stipendium des Landes NRW habe ich als junger Autor damals für ihn bekommen – so trifft doch zugleich zu, dass jedes Detail und jede einzelne Äußerung und Schrulle des „Fabrizius“ in meiner Geschichte ganz genau so von Sylvanus, als ich bei ihm war, getan und gesagt worden ist. Übrigens konnte ich ihm auch Respekt nicht versagen! Alt, wie er war, war er auch Bürgerschreck, ein Radikaler.

Frage: Sie sind dem alten Sylvanus also wirklich begegnet. Warum konnten Sie nicht bei ihm bleiben?

Friedrich Kröhnke: Erwin Sylvanus suchte eine Art Sekretär und Reisebegleiter – die Kunde gelangte über die Dichterin Dagmar Nick zu mir. Anscheinend sollte der Sekretär und Reisebegleiter zugleich ein (wenn auch vielleicht eher „platonisch“) ein strahlender junger Geliebter sein: dafür war ich damals eine Fehlbesetzung.

Man muss auch sehen, dass wir einander, auch wenn jene Tage und Nächte bei ihm so starke Eindrücke boten, nur ein einziges Mal begegnet sind. Er rief zwar noch zweimal an, erreichte aber nur meine Freundin Sylvia. Von seinem Tod wenig später erfuhr ich aus dem Radio. Beerbt hat ihn der Schriftsteller Friedel Thiekötter.

Frage: „Die Weise von Liebe und Tod“ – warum haben Sie der Erzählung einen Titel gegeben, der an die berühmte Novelle von Rainer Maria Rilke erinnert?
Friedrich Kröhnke: Sylvanus oder ich benutzten den Ausdruck (gewiss: Rilke zitierend) im Gespräch über seine Idee, noch ein Stück zu schreiben, ein Stück über AIDS. Im Rückblick fand ich in diesen Wörtern „Weise von Liebe und Tod“ viel vom Wesen unserer vergeblichen Begegnung.

„Eine neue Weise von Liebe und Tod“ hatten wir damals gesagt. Und für die Neuausgabe der Novelle habe ich Bernhard Albers vom Rimbaud Verlag den leicht veränderten Titel vorgeschlagen: „Neue Weise von Liebe und Tod“. Er wollte aber nichts davon wissen, da mein Text ja in seiner früheren Ausgabe (in dem Erzählungenband „Knabenkönig mit halber Stelle“) schon seit 1988 in der Welt war.

Sylvanus in Prag

Das Foto zeigt Erwin Sylvanus auf dem Jüdischen Friedhof in Prag. Sylvanus liebte Prag. „[Prag] ist ein Ort, an dem sich geradezu traumhaft zeigt, wie alle Jahrhunderte dort noch ihre Spuren, ihre Bauten, ihre Trachten und Sitten aufzuweisen haben. Das ist die Stadt, wo das Bild der Gleichzeitigkeit aller Epochen verwirklicht ist wie nirgends sonst..“ sagte er in einem Interview, das 1963 erschien. Im gleichen Jahr wurde der Fernsehfilm „Kafka und Prag“ ausgestrahlt. Das Drehbuch schrieb Erwin Sylvanus. Zeigen wollte er, wie der Prager Dichter Kafka „aus der labyrinthischen Vielschichtigkeit der „goldenen Stadt“ zu verstehen sei.

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