Erwin Sylvanus und Heinz Hilpert

1961 erscheint das Quadrat-Buch „Heinz Hilpert. Das Theater ein Leben.“ Eine Hommage an den Intendanten des Deutschen Theaters in Göttingen. Zu Wort kommt er selbst. Und der Dank von einigen Menschen, die ihn begleiteten. Darunter auch Erwin Sylvanus. Hier der kurze Text:

„Wir sprachen über die Urmythen der Völker. Hilpert hat bekannt, wie sehr er in der Jugend von den Helden Homers beeindruckt gewesen sei. Er habe sich Odysseus zum Lieblingshelden erwählt. Mit Siegfried habe er hingegen kaum etwas anfangen können. Auch heute noch fühle er sich von Odysseus sehr viel stärker angezogen und fasziniert.
Bislang glaubte ich, Hilpert zu verehren wie einen Vater. Mir wurde blitzschnell klar, dass ich in ihm immer den großen Dulder und Wisser verehrt habe, den listenreichen Menschen einer unendlichen Heimfahrt, den Einsamen auch, der für seine Gefährten täglich neue Verzauberung und Wunder sieht und erfindet, der für sie Gefahren besteht – und niemand erreicht ihn je durch Tat oder Gedanken. Er blickt tiefer, versteht eher als sie alle. Ich muss an das Bild des von seinen Gefährten gefesselten Odysseus denken, wie er vom Gesang der Sirenen betört wird. Ohne Odysseus würden die Gefährten niemals heimkehren. Aber auch Odysseus könnte das wundersame Wagnis der Heimkehr ohne sie nicht bestehen.
Erwin Sylvanus“

Der Bühnen-Tachist

Der Bühnen-Tachist: In einer Rezension des in Göttingen uraufgeführten Stücks „Zwei Worte töten“ setzt sich der SPIEGEL-Autor 1959 mit dem „Bühnen-Tachist Sylvanus“ auseinander (vgl. http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-42625632.html). Es gelingt Sylvanus, durch seine Methode abrupter Unterbrechungen eines Erzählflusses die Aufmerksamkeit der Zuschauer zu halten. Durch scheinbare Improvisation von „Szenenflecken“, die als zufällig und motivlos erscheinen, muss der Zuschauer selbst den Sinn des Stückes rekonstruieren. Er ist insofern aktiv an dem Theaterstück beteiligt. Sylvanus nutze aber – so der Rezensent der Göttinger Aufführung – auch den Trick, ohne Pause durchzuspielen, so dass die Zuschauer das Stück nicht vor dem Ende verlassen können.

Nochmal Tachismus: Sylvanus sieht sich als Erfinder einer tachistischen Dramaturgie. Er will die Prinzipien dieser Kunstrichtung, die in den 40er Jahren in Paris entstand, auf seine Theaterstücke übertragen. Im Tachismus soll durch das spontane, zufällige Aufbringen von Farbflecken auf die Leinwand rationale Kontrolle des Malvorgangs vermieden werden. Das Unbewusste soll so unmittelbaren Ausdruck erhalten. Die Übergänge vom Tachismus – die Bezeichnung setzt sich letztendlich nicht durch – zu anderen Formen der abstrakten Malerei der Nachkriegszeit wie dem Informel oder dem Action Painting des Amerikaners Jackson Pollock sind fließend.Kein Illusionstheater: „Korczak und die Kinder“ wurde am 1. November 1957 von Hans-Dieter Schwarze an den Vereinigten Bühnen Krefeld-Mönchengladbach uraufgeführt. Erwin Sylvanus war von seinem Freund Hans-Dieter Schwarze darin bestärkt worden, das Lebensende von Janus Korczak im Warschauer Ghetto in ein Theaterstück umzusetzen. Schwarze bat ihn um ein Stück für eine Studio-Bühne. „Daß ein solches Stück eine eigene Dramaturgie haben mußte, war Schwarze und mir schon im ersten Gespräch klargeworden. Es durfte kein Stück für ein wie auch immer geartetes Illusionstheater werden.“ (Sylvanus, Vorwort 1980, S.9) So entwickelte Sylvanus seine tachistische Dramaturgie für sein Stück „Korczak und die Kinder“.

Doktor Janus Korczak

Der „Zweite Schauspieler“ ist Doktor Janus Korczak, Leiter eines Waisenhauses im Warschauer Ghetto. Zusammen mit seinen 200 Kindern wurde er im August 1942 im Vernichtungslager Treblinka ermordet. 1956 las Erwin Sylvanus in einer polnischen Kulturzeitschrift vom Schicksal des jüdischen Arztes. Der Bericht war seine einzige Quelle, denn Korczak war in Deutschland völlig unbekannt. „Dem Finden muss immer das Erfinden folgen,“ schreibt Sylvanus. Welchen Korczak hat er erfunden?

Der Korczak des Theaterstückes ist ein gebrochener Held, ein alter, müder Mann. Jeden Tag bettelt er im Ghetto um Essen. „Dann will ich wieder betteln gehen…. (Steht auf.) Betteln bei denen, die nichts haben … Kein Jude ist satt in Warschau … Nicht ein einziger Jude ist satt. Aber es lohnt nicht, bei denen zu betteln, die jetzt satt sind in Warschau. Schieber. Gauner. Diebe. Und wenn es sich doch lohnte?“ So besucht er auch diejenigen, die im Ghetto reich geworden sind. Er ist unterwürfig. Er erzählt unanständige Witze, um ein Fläschchen Öl zu bekommen. Er kämpft verzweifelt um das Überleben seiner Waisenkinder. „Es wäre für mich leichter, zum Tode zu gehen, als ohne Brot zu meinen Kindern zu kommen.“ Diese Verantwortung zu tragen, ist schwer für ihn; sie bringt ihn fast um.
In den letzten Stunden, bevor er und die Kinder in das Vernichtungslager abtransportiert werden, zeigt er heroische Hartnäckigkeit. Der SS-Offizier verlangt – aus Angst vor Widerstand – eine Lüge von Korczak. Er soll den Kindern weismachen, dass sie einen Ausflug machen werden. Im Gegenzug bietet er an, ihn zu verschonen. Korczak lässt ihn seine Lüge etwas kosten: Brot und Milch für die Kinder und das Lebens der Betreuerinnen des Waisenhauses trotzt er dem SS-Offizier ab. Hartnäckig erkämpft er die Zusagen, wobei letztere sich als Lüge erweisen wird. Selbst verschont zu werden, lehnt er ab: „Herr Offizier. Ich begleite die Kinder. Sie werden nicht weinen und sie werden auch nicht schreien. Ich werde mit ihnen gehen und ich werde bei ihnen sein… Bis zuletzt… Bis ganz zuletzt.“

Der Erste Schauspieler in „Korczak und die Kinder“

Der „Erste Schauspieler“ in „Korczak und die Kinder“ ist der „Leiter eines Einsatzkommandos“ – ein SS-Mann. Die SS-Einsatzkommandos waren berüchtigt – verantwortlich für die Massenvernichtung an Juden und Sinti. Sie liquidierten das Warschauer Ghetto und transportierten die jüdische Bevölkerung in das Vernichtungslager Treblinka. Gemessen an den Untaten der SS wirkt der „Leiter eines Eisatzkommandos“ fast harmlos. Zu harmlos?
Sylvanus lässt ihn seine Lebensgeschichte berichten – jenseits von NS und Terror. Der Leiter des Einsatzkommandos ist ein Kleinbürger. Er erzählt von seiner Jugend und von dem Hunger, für den er sich schämte. „Nicht der laute, knurrende Hunger, sondern der leise schleichende Hunger. Der Nierenfetthunger, möchte ich sagen. Der Hunger, den man als Kleinbürger verbirgt und nicht wahrhaben will.“ Zuhause warten seine Frau, zwei Kinder und der Hund Waldi. Er freut sich, dass Waldi ihn überschwänglich begrüßt. Er ist Antisemit. In seiner Jugend wollte er die Wahrheit sagen und nicht lügen. Bei der Hitler-Jugend lernte er zu lügen. Am Ende überredet er Janusz Korczak, seine Waisenkinder in das Vernichtungslager zu begleiten. Und er verstößt gegen seinen Befehl, als er die Betreuerinnen der Waisenkinder auf Bitte von Korczak verschont. Der alte Mann ist dem SS-Mann in dieser Gesprächssituation überlegen: „Will es mich denn nie freigeben, das Schämen? Es war wie damals, als ich immer Hemden tragen musste, die nicht passten. Weil sie aus den abgelegten Hemden meines Vaters geschneidert waren. Dieser Saujude, dieser dreimal verfluchte!“
Erwin Sylvanus schreibt, dass der Leiter des Einsatzkommandos bei den Inszenierungen in Ausland besonderes Interesse erweckt habe. Die Figur habe er wegen ei-ner Frage von Janusz Korczak geschrieben. Wenige Tage vor der Liquidierung des Ghettos beobachtete Korczak einen Soldaten im Hof des Waisenhauses und fragte sich, wie dieser junge Mann aufgewachsen sei.
Ist das eine Verharmlosung? In seinem Buch „Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager“ schreibt der Göttinger Wolfgang Sofsky: „Das organisierte Verbrechen war monströs, die Täter waren es nicht.“

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